Manchmal ist intensives Glück so groß wie ein Lindenblatt
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Diese Geschichte beginnt vor etwa 1000 Jahren.
In einer chinesischen Töpferei der Song Dynastie, in der Nähe der Stadt Chi Chou, waren die Arbeitsabläufe klar geregelt und aufgeteilt. Jeder Arbeitsschritt lag in der Hand eines Spezialisten. Es gab Arbeiter, die den Ton aufbereiteten, es gab Dreher, die die Gefäße auf der Drehscheibe herstellten. Die gedrehten Schalen stellten sie auf Bretter, die, sobald sie voll waren, ein dafür zuständiger Arbeiter zum Trocknen abtransportierte. Im lederharten Zustand wurden sie von Spezialisten abgedreht, nach nochmaligem Trocknen glasiert und wieder getrocknet. Schließlich kam jede einzelne Schale in eine Brennkapsel, um sie vor der direkten Flamme, vor Asche und Ruß im riesigen Drachenofen zu schützen, den viele Brenner eine Woche lang mit Holz feuerten.
Ein Arbeiter, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die Schalen in die Kapseln zu stapeln, beging einen Fehler. Er übersah ein Blatt, das in eine der Schalen gefallen war. Nach dem Brand stellte man zur großen Verwunderung fest, dass das Blatt mit der dunklen Glasur verschmolzen war und sich klar und hell in der Schale abbildete. Welch glücklicher Unfall! Dieses Phänomen wollte man sich zunutze machen und versuchte, den Effekt zu wiederholen. Offenbar mit überschaubarem Erfolg, denn an der Seltenheit dieser Schalen lässt sich erkennen, dass das nicht oft gelang. Nur wenig erhaltene Exemplare finden sich heute in Museen und erzielen astronomische Preise, wenn sie auf den Markt kommen.
Während der Zeit der Song Dynastie befand sich im heutigen Brandenburg ein recht primitiver, mit Holz und Steinen befestigter runder Burgward, umgeben von einer slawischen Bauernsiedlung. Dort pflanzte man eine Linde, denn den Slawen galt die Linde als heiliger Baum. Sie verehrten sogar eine Lindengöttin, „Libussa“, vom slawischen Wort „liba“ für Linde, die sie in Liebes- und Rechtsfragen um ein Orakel baten. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts begannen die Bewohner der kleinen Siedlung eine christliche Kirche zu bauen. Da sie dem neuen Glauben nicht ganz trauten, hielten sie an alten Traditionen fest. Die Linde blieb stehen. Bis heute.
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Was haben diese beiden Geschichten gemeinsam? Nun, jetzt komme ich ins Spiel. Ich lebe in dem Dorf das aus der alten Siedlung hervorgegangen ist. Ich bin Töpfer und fasziniert von den unglaublich schönen, zeitlosen Keramiken der Song Dynastie. Seit Jahren versuche ich das Rätsel der Blätter zu lösen. Immer im Herbst, wenn sich die Bäume gelb und rot verfärben und sich das Laub in seiner bunten Pracht zeigt, starte ich einen neuen Versuch. Nie hat es geklappt. Ich habe es geschafft, gelbliche Pfützen zu erzeugen oder bläuliche geisterhafte Schemen, die ihren Ursprung erahnen lassen, aber nie zeigte sich das klare deutliche Abbild eines Blattes wie in einer Song Schale.
Im letzten Herbst hat es mich erneut gepackt. Ich sammelte viele verschiedene Blätter, immer weiter, bis in den Winter hinein, bis die Blätter am Boden schon zu verrottet waren, um noch brauchbar zu sein. Meine Werkstatt verwandelte sich in ein Alchimistenlabor. Ich traktierte die Blätter auf jede erdenkliche Weise, trocknete sie, legte sie ein oder fror sie ein. Unzählige Glasurproben füllten jeden freien Raum in Regalen und auf Tischen.
Mit jedem Öffnen des Brennofens wurde die Hoffnung auf ein gutes Ergebnis wieder und wieder enttäuscht. Ich arbeitete wie besessen. Obwohl ich schon nicht mehr wusste, wohin mit all den misslungenen Schalen, glaubte ich doch dem Geheimnis ganz nah zu sein. Nach ungezählten Misserfolgen kam langsam die Einsicht, dass es nicht gelingen würde. Anfang März beschloss ich, für dieses Jahr aufzugeben.
Einen Tag später hatte ich eine allerletzte Idee, was noch auszuprobieren wäre. Ein letzter Strohhalm vor dem Eingeständnis des Scheiterns. Ein letzter Brand.
Als der Ofen abgekühlt war und ich den Deckel öffnete war sie da. Direkt vor meinen Augen, noch zu heiß zum Anfassen. Die Schale mit dem perfekten Abbild eines Lindenblatts. Eines Blatts der alten Linde vom Kirchhof.
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